Hallo in die Runde,
in einem ca. drei Monate altem Mikroaquarium kam es zu einer Massenentwicklung des Rädertiers Lecane inermis BRYCE 1892. Da ich schon länger vorhatte, die Embryonalentwicklung eines Rädertieres mit der von Gastrotrichen zu vergleichen, habe ich die Gelegenheit genutzt und ein Ei von der Eiablage bis zum Schlupf des Jungtiers mit 50-fachem Zeitraffer zu filmen. Leider erwies sich die Entwicklung von Rädertieren und Gastrotrichen als so unterschiedlich, dass sich die Gemeinsamkeiten in einem Satz zusammenfassen lassen:
Rädertiere und Gastrotrichen legen einzellige Eier, deren Zelle sich nach der Abgabe eines Polkörpers sofort entwickeln.
Ab der ersten Teilung der ersten somatischen Zelle verläuft die Embryonalentwicklung recht unterschiedlich, so dass sich ein weiterer Vergleich erübrigt. Deshalb stelle ich hier nur die Verhältnisse bei parthenogenetischen Soforteier von L. inermis dar.
Es existieren nicht viele Untersuchungen über die Embryonalentwicklung von Rädertieren. Ein guter Überblick ist in [1] zu finden. Die einzige mir bekannte Untersuchung bei einer Lecane Art stammt aus dem Jahr 1965 [2].
Vor einiger Zeit hat Michael Plewka bereits L. inermis im Forum vorgestellt (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=4560.0). Da ich es recht schwierig fand, gute Fotos von diesen Tieren zu machen, möchte ich Euch auf Michael Plewkas professionelle Bilder verweisen.
Als ich die Massenentwicklung des Rädertieres in meinem Mikroaquarium bemerkte, fand ich die Artbestimmung sehr schwierig. Die Tiere waren sehr flexibel, so dass ich mir über die Gattung der Tiere nicht klar war:
Bild 1: L. inermis; Übersicht
Nach einigen fruchtlosen Ausflügen in die Bestimmungsschlüssel von Cephalodella und Proales bemerkte ich aber die Panzer einiger abgestorbener Exemplare:
Bild 2: L. inermis; leerer Panzer
Nun war klar, dass das Tier in die Gattung Lecane einzuordnen war und ich durfte lernen, dass einige (wenige) Lecane-Arten mit weichem Panzer existieren. Die Form des Fußes mit den ausgeprägten Krallen brachte mich schließlich auf Lecane inermis (= "ungeschützte Lecane").
Bild 3: l. inermis; Fuß mit Krallen
L. inermis wurde in den letzten Jahren als ein viel versprechendes Werkzeug diskutiert, um die Massenvermehrung von Cyanobaktierien in biologischen Klärbecken zu kontrollieren. Die Leibspeise von L. inermis sind filamente Blaualgen, die das Tier mit seinen beweglichen Mundwerkzeugen ergreift und sich in den Mund steckt. Dadurch kommt der Bakterienfaden in den Bereich des Kauers und wird gemütlich abgeknabbert:
Bild 4: L. inermis beim Fressen von Cyanobakterien
Die Mundwerkzeuge bestehen aus zwei warzenartigen Vorsprüngen beidseitig des Mundes und tragen jeweils eine hakenförmige Kralle. In der Mundöffnung selbst ist ein Dorn zu erkennen, der den Bakterienfaden zusätzlich festhält.
Bild 5: L. inermis; bewegliche Mundwerkzeuge
Die Eier von L. inermis werden einzellig abgelegt und sind bei der Eiablage flexibel. Die Eischale besteht aus zwei Schichten. Sobald diese mit Wasser in Berührung kommen, quillt das Material im Zwischenraum auf und trennt die beiden Schichten voneinander. Dieser Mechanismus erinnert an das Aufblasen eines Schlauchbootes und erzeugt eine erstaunliche Eistabilität. Das Ei ist klebrig und haftet am Substrat.
Bild 5: L. inermis; Ei wenige Minuten nach der Ablage
Direkt nach der Ablage stößt die Eizelle einen Polkörper ab. Diese kleine Zelle ist bei Rädertieren lichtmikroskopisch wohl nicht zu sehen, da die große erste somatische Zelle mit Dottermaterial gefüllt ist und daher sehr trübe erscheint. Entsprechend gefärbte Fluoreszenzpräparate zeigen den Polkörper (bei anderen Arten) an der Unterseite des Eis (anders als bei den meisten Tieren liegt der Polkörper bei Rädertieren nicht auf der Achse des späteren Tieres, sondern senkrecht dazu). Die beiden Eischalen erscheinen transparent, wobei die äußere Eischale ein sehr feines Noppenmuster trägt.
Bild 6: L. inermis; Muster der Eischale
Die weitere Entwicklung wurde für Lecane cornuta von Pray [2] detailliert beschrieben und kann im Film analog nachvollzogen werden. Die ersten Teilungen erfolgen unsymmetrisch; es entstehen drei kleinere und eine große Zelle. Das Dottermaterial aus der Ursprungszelle sammelt sich in den kleineren Zellen, während die große Zelle sich mehr und mehr klärt.
Bild 7: L. inermis; ca. 2h nach Eiablage (Filmzeit 0:19);
4-Zell-Stadium; das Dottermaterial wird in den kleineren Zellen gesammelt;
Die dottergefüllten, dunkel gefärbten Zellen können im weiteren gut verfolgt werden und entwickeln sich später zum Verdauungstrakt des Tieres. Sie wandern zum Vorderpol des Eies, an dem später die Kopfseite des Tieres zu liegen kommt.
Bild 8: L. inermis; ca. 2h 30min nach Eiablage (Filmzeit 0:23)
die gefärbten, dottergefüllten Zellen wandern an den Vorderpol
Schließlich haben sich alle gefärbten Zellen am Vorderpol des Eis versammelt. Bei ihrer Wanderung haben sie die große, ursprüngliche Zelle an den anderen Eipol verdrängt. Aus dieser Zelle entwickeln sich später die Geschlechtsorgane des Tieres.
Die gefärbten Vorläuferzellen des Magen-Darm-Traktes beginnen in das Innere des Zellhaufens einzuwandern.
Bild 9: L. inermis; ca. 3h 30min nach Eiablage (Filmzeit 0:32)
die gefärbten, dottergefüllten Zellen sammeln sich am Vorderpol; Beginn der Gastrulation
Die zukünftigen Darmzellen stülpen sich in das Ei ein, so dass der Zellhaufen doppelwandig wird und eine Öffnung nach Außen entsteht (Blastopore). Diesen typischen Vorgang bezeichnet man als Gastrulation - die Bildung des Urdarms und des Urmundes.
Bild 10: L. inermis; ca. 6h 20min nach Eiablage (Filmzeit 0:57)
die gefärbten, dottergefüllten Zellen wandern ins Innere; vollständige Gastrulation; Pfeilspitze: Blastopore
Anders als bei vielen Tieren schließt sich der Urmund wieder. Die zukünftigen Magen- und Darmzellen sind nun vollständig von anderen Zellen im Inneren des Zellhaufens eingeschlossen.
Bild 11: L. inermis; ca. 7h 50min nach Eiablage (Filmzeit 1:11)
die Blastopore schließt sich wieder
Die dunklen Zellen des Magen-Darm-Traktes wandern an den hinteren Pol des Eies, währen am vorderen Pol der Kopf des Tieres langsam zu erahnen ist.
Bild 12: L. inermis; ca. 17h 05min nach Eiablage (Filmzeit 2:34)
die gefärbten Zellen sind am Endpunkt ihrer Wanderung angekommen
Im folgenden differenziert sich die Form des Tieres immer weiter aus. Der Kopfbereich mit dem späteren Gehirn ist bereits zu erkennen. Am hinteren Pol bildet sich der Fuß des Tieres, der sich dann nach links vorne erstreckt.
Bild 13: L. inermis; ca. 23h 20min nach Eiablage (Filmzeit 3:30)
Kopf und Darm differenzieren aus, der Fuß beginnt sich zu entwickeln
Nach ca. 29h sind die ersten Bewegungen des Embryos zu erkennen; die Muskeln beginnen zu funktionieren. Nach 35h sammeln sich am zukünftigen Gehirn die ersten Augenpigmente.
Bild 13: L. inermis; ca. 35h nach Eiablage (Filmzeit 5:15)
Pigment des Auges zu erkennen (Pfeilspitze), darüber die Anlage des Mastax
Nach 41h 30min werden Wimpernbewegungen im Kopfbereich sichtbar.
Nach ca. 45h beginnen sich die Hartteile des Kauers (Trophi) abzuscheiden. Dabei machen die Rami den Anfang.
Bild 14: L. inermis; ca. 45h 15min nach Eiablage (Filmzeit 6:47)
Im Mastax beginnen sich mit den Rami (Pfeilspitze) die Hartteile des Kauers abzuscheiden
große Aktivität in den beiden Magendrüsen (Asterix)
Die Entstehung der Kauerteile sind sehr gut zu verfolgen, da das Tier während der Entwicklung der Hartteile erstaunlich still hält. Wahrscheinlich ist das für den Abscheideprozess der Kauerteile notwendig. Nach den Rami entwickeln sich die Unci. Interessant fand ich, dass die Hartteile nicht - ausgehend von einem Ende - langsam wachsen, sondern die gesamte Struktur überall gleichmäßig immer deutlicher erscheint. Möglicherweise kann man hier "Turings Diffusions-Reaktionsmodell" (mathematisches Modell zur biologischen Strukturbildung) live bei der Arbeit verfolgen. Spannend fand ich auch die große Aktivität in den beiden, an den Mastax anliegenden Magendrüsen.
Bild 15: L. inermis; ca. 57h 25min nach Eiablage (Filmzeit 8:37)
Im Mastax sind Rami und Unci (Pfeilspitze) vollständig entwickelt; Manubria beginnen sichtbar zu werden
Schließlich sind auch die Manubria vollständig entwickelt. Die Kauerteile sind an das Muskelsystem angeschlossen und werden anfangs - wie zur Übung - langsam bewegt.
Bild 16: L. inermis; ca. 74h 50min nach Eiablage (Filmzeit 11:14)
Trophi vollständig entwickelt und beweglich (Pfeilspitzen: Manubria )
Nach ca. 87h Entwicklungszeit bearbeitet das nun vollständig entwickelte Tier mit seinen Mundwerkzeugen die innere Eischale, bis diese schließlich nachgibt. Durch den plötzlichen Druckverlust zwischen den Eischalen sackt die äußere Eischale zusammen - vergleichbar einem Schlauchboot mit Loch - und legt sich an den Panzer des Tieres an.
Bild 17: L. inermis; ca. 87h 05min nach Eiablage (Filmzeit 13:05)
die innere Eischale wird durchbrochen und das Ei schrumpft zusammen
Schließlich durchbricht das Tier nach ca. 92h 30min auch die äußere Eischale.
Bild 18: L. inermis; ca. 92h 30min nach Eiablage (Filmzeit 13:52)
die äußere Eischale wird durchbrochen und das Tier schlüpft
Der Zeitrafferfilm wurde ursprünglich mit einem 50-fachen Zeitraffer mit einem Wasserimmersionsobjektiv W 50/1,0 aufgenommen. Um für das Forum auf eine zumutbare Länge zu kommen, habe ich den Youtube-Film nochmals auf insgesamt 400-fachem Zeitraffer - auf ca. 15 min Filmlänge - beschleunigt.
Youtube streamt die Filme - d. h. bei kleiner Bandbreite wird die Filmqualität z.T. stark reduziert. Wer Bandbreitenprobleme hat, kann den Film auch direkt unter https://www.youtubepp.com/watch?v=0Ilr7YchA2M&feature=youtu.be vorab herunterladen und dann in voller Qualität betrachten.
Bild 19: L. inermis; gesamte Embryonalentwicklung als Film
zum Starten bitte auf das Bild klicken
Ich hoffe, der Beitrag war für Euch von Interesse.
Viele Grüße
Michael
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Literatur:
[1] Wanninger, A. (Ed.). (2015). Evolutionary Developmental Biology of Invertebrates 2. Springer-Verlag Wien 2015. doi:10.1007/978-3-7091-1871-9
[2] Pray F (1965) Studies on the early development of the rotifer Monostyla cornuta MÜLLER. Trans Am Microsc Soc 84:1965. DOI: 10.2307/3224287
Embryonalentwicklung beim Rädertier Lecane inermis
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Embryonalentwicklung beim Rädertier Lecane inermis
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Re: Embryonalentwicklung beim Rädertier Lecane inermis
Hallo Michael,
also bei dem Aufwand und diesem tollen Ergebnis bleibt mir glatt die Spucke weg. Ich finde übrigens nicht, dass sich Deine Bilder hinter denen von Michael verstecken müssen. Alles ist klar zu erkennen.
Eine Frage: Wie hast Du den Film erstellt? Hast Du die Kamera fern gesteuert und Einzelbilder aufgenommen?
Gruß
Thilo
also bei dem Aufwand und diesem tollen Ergebnis bleibt mir glatt die Spucke weg. Ich finde übrigens nicht, dass sich Deine Bilder hinter denen von Michael verstecken müssen. Alles ist klar zu erkennen.
Eine Frage: Wie hast Du den Film erstellt? Hast Du die Kamera fern gesteuert und Einzelbilder aufgenommen?
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Re: Embryonalentwicklung beim Rädertier Lecane inermis
Hallo Thilo,
es freut mich, dass Dir mein Beitrag gefallen hat. Aber so riesig ist der Aufwand nicht.
Zum anderen ist natürlich auch die Aufnahmetechnik entscheidend:
Der "Originalfilm" hat eine Länge von ca. 2 Stunden. Bei 25 Bilder pro Sekunde wären das ca. 180 000 Bilder - das würde der Verschluss meiner Kamera nicht überleben! Deshalb muss der Film im "Filmodus" mit Live-View aufgenommen werden. Für Canon EOS gibt es eine Freeware Firmware-Erweiterung "Magic Lantern" ( https://magiclantern.fm/) die die Fähigkeiten der Kamera stark erweitert. Unter anderem erlaubt sie, die Anzahl der Bilder pro Sekunde bei der Filmaufnahme zu wählen. Wählt man z.B. 0,5 frames pro Sekunde und spielt den aufgenommenen Film "normal" mit 25 Bilder pro Sekunde ab, erhält man einen 50-fachen Zeitraffer.
Der Aufwand für die Filmaufnahme besteht also - nach dem Starten der Aufnahme - nur noch darin, alle zwei Tage die Speicherkarte zu wechseln bzw. - da ich ein Wasserimmersionsobjektiv verwendet habe - alle 10h Wasser nachzugeben. Der Aufwand, die Filme anzusehen und auszuwerten ist definitiv größer!
Viele Grüße
Michael
es freut mich, dass Dir mein Beitrag gefallen hat. Aber so riesig ist der Aufwand nicht.
Zum einen braucht man natürlich ein stabiles Präparat. Über die Erstellung von Mikroaquarien hatte ich ja schon hier berichtet (viewtopic.php?f=45&t=721). Dieses Mikroaquarium hatte ich am 15.8. erstellt und es ist immer noch voll Leben.paramecium hat geschrieben: ↑17. November 2019, 19:30Eine Frage: Wie hast Du den Film erstellt? Hast Du die Kamera fern gesteuert und Einzelbilder aufgenommen?
Zum anderen ist natürlich auch die Aufnahmetechnik entscheidend:
Der "Originalfilm" hat eine Länge von ca. 2 Stunden. Bei 25 Bilder pro Sekunde wären das ca. 180 000 Bilder - das würde der Verschluss meiner Kamera nicht überleben! Deshalb muss der Film im "Filmodus" mit Live-View aufgenommen werden. Für Canon EOS gibt es eine Freeware Firmware-Erweiterung "Magic Lantern" ( https://magiclantern.fm/) die die Fähigkeiten der Kamera stark erweitert. Unter anderem erlaubt sie, die Anzahl der Bilder pro Sekunde bei der Filmaufnahme zu wählen. Wählt man z.B. 0,5 frames pro Sekunde und spielt den aufgenommenen Film "normal" mit 25 Bilder pro Sekunde ab, erhält man einen 50-fachen Zeitraffer.
Der Aufwand für die Filmaufnahme besteht also - nach dem Starten der Aufnahme - nur noch darin, alle zwei Tage die Speicherkarte zu wechseln bzw. - da ich ein Wasserimmersionsobjektiv verwendet habe - alle 10h Wasser nachzugeben. Der Aufwand, die Filme anzusehen und auszuwerten ist definitiv größer!
Viele Grüße
Michael
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